DIE MONDSCHEINALLEE – Teil 2
PHILIPP GROSS
Heute Nachmittag war alles perfekt. Wir waren bei Frau Dachmann zum Kaffee eingeladen. Unsere Nachbarn sind alle so liebe Menschen. Und wie herzlich alle miteinander umgehen. Sogar Mindi und ich haben es geschafft. Ich konnte einmal alles vergessen. Manchmal bin ich richtig verzweifelt und denke sogar an suizid. Aber wenn ich dann meine Nachbarn treffe, verwerfe ich die Gedanken. Denn habe ich Hoffnung. Hoffnung, dass wir auch mal so werden wie sie. Glücklich. Seit das Baby da ist, ist Mindi sehr gestresst. Gestresster als andere frische Mütter. Vermute ich.
Es klingelt an der Haustür. Bestimmt die Nachbarin. Anne Miller. Meine Frau hat heute Nachmittag ein Päckchen für sie entgegen genommen, als wir von Kaffee und Kuchen wieder gekommen sind.
„Hallo Anne“, grüße ich sie und reiche ihr schon das Päckchen, welches auf der Treppe neben der Haustür steht.
„Hallo, danke schöön!“, bedankt sie sich strahlend. „Genau deswegen bin ich her gekommen. Vielen Dank!“ Sie nimmt das Päckchen entgegen.
„Nicht dafür, sehr gern. Mach’s gut. grüß deine Eltern“
„Mache ich, grüßen Sie ihre Frau“ Sie winkt mir lächelnd und verschwindet nach neben an. Nettes Mädchen. Ich schließe die Tür und gehe wieder hinein.
Mindi ist beim Baby. Ich höre den Kleinen schreien. Oliver heißt er. Wie Mindis Vater. Ich wollte ihr helfen, aber sie hat mich raus geschickt. Sie war ziemlich negativ geladen und gestresst.
Während sie versucht, Olli zu beruhigen, gehe ich in die Küche und decke den Tisch zum Abendessen.
Als ich fertig bin, schreit der Kleine immer noch, aber ich höre Mindis Schritte. Kurz darauf steht sie neben mir. Der Kopf ist dunkelrot, ihr Haar ist verstrubbelt und verschwitzt und sie sieht nicht gut gelaunt aus.
„Dieses Kind macht mich wahnsinnig!“, ruft sie laut aus und stapft zum Kühlschrank, aus dem sie Butter holt und sie wütend auf den Tisch knallt. „Du hast die Butter vergessen!“, schimpft sie wütend. „Weißt du, am liebsten würde ich dieses beschissene Baby aus dem Fenster werfen!“
„Nein, das möchtest du nicht“, versuchte ich, sie zu beruhigen. Sie ist ein sehr impulsiver Mensch. Das habe ich schon oft zu spüren bekommen. Vor allem, seitdem das Baby da ist. Die blauen Flecken und halbwegs verheilten Wunden an meinem Körper sind der Beweis dafür. Letzte Woche war sie so gereizt, dass sie eine halbe Melone nach mir geworfen hat, ich war sofort ohnmächtig. Ich erinnere mich noch, wie ich danach auf dem Boden aufwachte. Mindi war fort gewesen. Und Oliver hatte geschrien.
Ich muss eigentlich gar nichts machen. Sie wurde ganz von alleine sauer und fing ganz von alleine an, verletzend zu werden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jedes mal, wenn ich mit jemandem darüber reden oder die Polizei rufen wollte, musste ich mich an ihre Worte erinnern.
„Philipp, ich weiß welchen Dreck zu am Stecken hast! Ein Wort über das, was hier im Haus passiert und alle werden es erfahren!“ So wie sie es gesagt hatte, habe ich keinen Moment an ihrer Aussage gezweifelt.
„Soll ich hoch gehen und Olli beruhigen?“
„Ich gehe davon aus, dass du das tust!“ Ihr Ton ist barsch. Ich gehorche und eile hinauf. Bloß weg von ihr, bevor sie auf dumme Gedanken kommt. Solange ich bei dem Baby bin, würde keinem etwas passieren. Trotz ihrer bösen Worte, würde sie Olli nie etwas antun. Und solange ich bei ihm war, würde sie auch mir nichts antun.
Ich nehme den kleinen Körper aus dem Bettchen. Er bebt vor lauter Geschrei.
Sachte wiege ich ihn hin und her und singe ihm leise ein Lied bis er sich beruhigt. Seine Augen sind ganz geschwollen, rot und nass. Sein Köpfchen ist hochrot und er sieht sehr erschöpft aus. Seine paar Härchen auf dem Kopf sind schweißnass. Langsam fallen ihm die Augen zu. Vor lauter Erschöpfung nehme ich an. Er sieht süß aus, wenn er schläft. Er hat die Nase seiner Mama. Dieselbe kleine, süße Stupsnase.
Langsam gehe ich auf sein Bettchen zu, um ihn dorthin zurück zu legen, da höre ich Schritte hinter mir. Sicher Mindi, die sich freute, dass der kleine endlich ruhig ist. Lächelnd drehe ich mich herum und erstarre. Ihr Gesicht ist immer noch dunkelrot, ihr Gesichtsausdruck entschlossen und in der Hand hält sie unser Fleischermesser. Sachte lege ich Olli in seinem Bett ab, ohne den Blick von Mindi abzuwenden.
„Willst du noch etwas kochen?“, frage ich betont ruhig.
„Wenn du ganz leise bist und ruhig hältst, tut es auch überhaupt nicht weh“
Ganz im Gegensatz zu eben, ist sie plötzlich sehr, sehr ruhig. Es macht mir angst. Ich habe lieber die laute, schimpfende Mindi vor mir. Die kratzende, beißende, mit Melonen werfende Mindi. Ein Messer in ihrer Hand bereitete mir viel größeres Unbehagen.
„Ganz ruhig, Mindi“ Ich versuche so ruhig zu bleiben wir nur möglich und mache eine beschwichtigende Handbewegung. Rühre mich dabei aber nicht vom Fleck.
„Sag mir nicht, was ich zu tun habe!“ Scharf, aber immer noch beunruhigend ruhig.
„Mindi, das möchtest du nicht wirklich. Du bist nur ein bisschen gestresst. Leg das Messer weg und dann lasse ich dir ein heißes Beruhigungsbad ein. Okay?“
Noch immer steht sie im Türrahmen mit dem gefährlichen Messer in der Hand. neben mir im Bettchen hustet Oliver leise. „Bitte Mindi“ ich sehe ihr in die Augen und sie setzt sich langsam in Bewegung. Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung. Es ist eine Art Tanz, die wir hier führen. Im Kreis und sehr langsam, laufen wir umeinander herum. Sie läuft immer weiter ins Zimmer, ohne ihren Blick von mir zu lassen. Ich laufe immer weiter gen Flur, ohne den Blick von ihr zu lassen. Viel zu spät bemerke ich, wie dumm ich bin, sie mit dem Messer in Richtung des Babys gehen zu lassen. Bisher beachtet sie es glücklicherweise nicht. Doch ich kann für nichts garantieren, sollte er gleich wieder aufwachen. Im Flur, direkt neben der Tür, steht eine kleine Kommode mit unserem Haustelefon. Ich müsste nur ganz unbemerkt hin gehen, damit ich danach greifen konnte, sobald sie aussetzte. „Was hältst du davon? Und danach massiere ich dich. Dann bist du wieder viel entspannter“, setze ich wieder an. Leise, um sie nicht aufzuregen und um Olli nicht zu wecken.
Ihre Schritte werden schneller. Sie kommt mir entgegen. Weg vom Baby. Zum Glück.
„Ich habe da eine viel bessere Idee. Ich reagiere mich ab und habe danach für immer meine Ruhe“ Ein irres Funkeln blitzt in ihren Augen auf. Panik steigt in mir auf und ich überlege, lieber sofort schon Hilfe zu rufen, bevor es zu spät sein konnte. Sollte die Polizei doch mein Geheimnis raus finden. Lieber wusste ich meinen Sohn lebend, als uns beide tot. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl in der Magengegend.
Im Flur angekommen, gehe ich sachte zur Seite, in Richtung Badezimmer. In diese Richtung steht auch das Telefon. Ich greife vorsichtig danach und wähle 110. Dann lasse ich es in meine Hosentasche wandern. Ich bin so fixiert auf Mindi, dass ich das Kabel des Telefonanschlusses nicht sehen und drüber stolpere. Das löst etwas in meiner Frau aus und sie stürzt laut schreiend auf mich zu. So schnell ich kann, renne ich durch den Flur und schaffe es irgendwie ungeschoren ins Kinderzimmers meines Sohnes, der, durch Mindis Geschrei wach geworden, angefangen hatte zu brüllen. Ich schnappe ihn mir, öffne das Fenster und springe auf den Dachvorsprung, denn ein Zurück gibt es nicht. Dort steht Mindi mit dem Messer. Ich bin wie betäubt. Ich weiß nicht, wie ich es mache, aber ich schaffe es, Oliver und mich auf den Boden zu bringen. Ich spüre etwas Schmerzendes an meiner Schulter und gleich darauf fliegt das Fleischermesser an mir vorbei. Sie hat nach uns geworfen!
Ich reiße mich Olli zu Liebe zusammen, unterdrücke den Schmerz und renne zu den Millers, deren Haus direkt neben unserem steht und hämmere mit einer Hand an die Tür. In der anderen halte ich das schreiende Baby.
„HILFE!“, brülle ich. „Susan! Jan! HELFT MIR!“ Oliver in meinen Armen schreit und mein Puls spielt verrückt. Verängstigt drehe ich mich zu unserem Haus um. Mindi könnte jeden Moment raus kommen. Weiterhin hämmere ich an die Haustür. „Anne! Hilfe!“ Ich bin müde. Weinend und mit einem bestialischen Schmerz in der Schulter sinke ich zu Boden.
Da fällt mir das Telefon in meiner Hosentasche ein. Mit der freien Hand an der verletzten Schulter ziehe ich es hervor.
„Was ist da los?“, höre ich jemanden aufgeregt am anderen Ende rufen. Man musste mich mit verfolgt haben. Glücklicherweise. „Mondscheinallee“, weine ich ins Telefon. „Schnell. Hilfe!“
Dann rutscht mir das Telefon aus der Hand. Jetzt hieß es warten und überleben.
Das Mindi noch nicht da war, schien zu bedeuten, dass sie auch nicht mehr kommen würde. Vor den Nachbarn machte sie so etwas nicht. Sie war die Vorzeigenachbarin.
Ich drücke den schreienden Oliver an mich und wippe ihn auf dem Treppenabsatz von Millers Haus hin und her. Warum nur sind wir so kaputt?
ANNE MILLER
Heute Nachmittag waren wir bei den Dachmanns zum Kaffee. Allesamt. Die ganze Nachbarschaft. Es ist schön, wenn wir gemeinsam etwas machen. Alle sind so lieb. Eine richtige kleine Vorstadt, mit wundervollen Menschen. Normalerweise habe ich nicht so viel mit ihnen zu tun, da ich nicht mehr hier wohne. Ich bin nur hier, wenn ich meine Eltern besuche. Dennoch ist es schön, etwas mit ihnen zu machen. Auch wenn es nur Kaffee ist.
Jetzt stehe ich im Bad und mache mich fertig. Meine Eltern und ich gehen heute essen, zum Abschied. denn morgen fahre ich schon wieder für ein paar Monate weg.
Ich kippe das Fenster an, damit die Wärme abziehen kann. Was nicht viel bringt, da es draußen auch noch sehr warm ist. Irgendjemand schreit. Nanu? So etwas gibt es doch hier sonst nicht. Hier gibt es nicht mal Gerüchte und Tratsch, da sich niemand etwas zu kommen lässt.
Irgendetwas geht zu Bruch. Was ist denn da los? Vorsichtig spähe ich aus dem Fenster und lausche. Nichts. Niemand zu sehen. Alles liegt still da. Erneut erhebt sich eine Stimme. Eindeutig eine Frau. Aber noch immer ist nichts zu sehen. Wieder geht etwas zu Bruch. Das klingt ganz und gar nicht gut. Ich mache mir ein wenig Sorgen und blicke wieder auf der Straße herum. Meine Blicke gehen zu den Fenstern. Nirgendwo ist etwas zu sehen. Wo die Stimmen her kommen, kann ich nicht zu ordnen.
Ertappt zucke ich zurück, als ein Fenster zu geschlagen wird. Ich sehe noch, wie gegenüber bei den Kiesels die Jalousien leicht wackeln. Die Kiesels streiten. Das war mir vollkommen neu. Hoffentlich konnten sie sich wieder einigen und vertragen.
Das Essen ist lecker gewesen und ich hatte einen wunderschönen, entspannten Abend mit meinen Eltern. Das Wetter ist so schön, heute sind wir zu Fuß unterwegs. Es dämmert schon leicht, als wir in die Mondscheinallee einbiegen. Vor dem Haus der Dachmanns steht Rainers Auto. Darin sitzt eine fremde Frau, die sich die Lippen schminkt. Wer das wohl ist? Ich blicke automatisch zum Fenster und sehe wie Larissa weint. Wir sind kaum an der Haustür vorbei, da eilt Rainer mit Koffern aus dem Haus und wirft sie in den Kofferraum seines Wagens.
„Ich hab es getan. Jetzt können wir ganz normal zusammen sein“, höre ich seine dumpfe Stimme aus dem Auto. Er scheint uns nicht bemerkt zu haben. Als wir um die Ecke biegen, blinkt uns Blaulicht entgegen. Was ist denn hier nur los? Erst das Geschrei am frühen Abend, dann Herr Dachmann mit den Koffern und Frau Dachmann weinend und nun Blaulicht. Ganz viel Blaulicht. Ein Krankenwagen und ein Polizeiauto stehen vor unserer Tür. Nein, vor der Tür der Familie Gross.
Ich sehe, wie die Polizei Mindi in Handschellen abführt, die regungslos vor sich hin starrt. Am Krankenwagen stehen Sanitäter, die mit Philipp reden. Philipp hat das Baby auf dem Arm und wendet den Blick beschämt ab, als ich zu ihm sehe. In seinen Augen sehe ich Schmerz. Seine Schulter ist verletzt und wird gerade notbehandelt.
„Was ist passiert?“, fragt meine Mutter besorgt, aber Philipp senkt nur wieder schweigend den Kopf.
Ein Polizist begleitet uns ins Haus und bittet um Diskretion. Wir verschwinden nach drinnen. Kurz darauf verschwinden die Autos. Und die Blaulichter.
Nachdenklich gehe ich zu Bett. Ich frage mich, was heute nur in unserer Nachbarschaft passiert ist. Mein Blick wandert hinüber zum Haus der Leonhardts. Dort lag es alles ruhig. Zum Glück. Ein kleines Licht brannte in der Küche. Ansonsten war alles dunkel und wieder unheimlich still.
Früh am Morgen wache ich von lauten Geräuschen auf. Türen, die zugeknallt werden. Dumpf, aber laut. Augen reibend setze ich mich auf und schaue aus dem Fenster, wo der Lärm her kommt. Jacob und Sina steigen gerade ins Familienauto. Frau Leonhardt wirft mit ausdruckslosem Gesicht die Tür zu. Das Auto sieht sehr vollgepackt aus. Ein Anhänger ist hinten angehängt. Auch dieser ist sehr vollgepackt. Neben der Einfahrt steht ein großes Möbelauto. Sieht gemietet aus. Ramona fährt los, kaum dass ihr Mann vor die Haustür getreten ist. Das Möbelauto folgt ihr. Bedrückt schaut Kris ihr hinterher. Mein Blick wandert zu den Fenstern. Die Wohnung sieht leer aus. Sehr leer. Kaum noch etwas ist drin. Kurz darauf schnappt sich Kris eines der Fahrräder und verschwindet ebenfalls.
Als ich im nächsten Sommer wieder komme, steht das Haus noch immer leer. Weder Kris noch Ramona sind je wieder da gewesen. Nebenan bei Gross‘ sind neue Nachbarn eingezogen. Mindi sitzt noch im Gefängnis. Larissa Dachmann lebt alleine in dem riesigen Haus mit dem ehemals so schönen Rosenbeet, welches nun traurig aussieht. Meine Eltern erzählen mir, dass man die Kiesels immer noch regelmäßig streiten hört und er die Scheidung eingereicht hat.
Ich dachte immer unsere Nachbarschaft sei filmreif. Was genau alles vorgefallen ist, weiß ich nicht, aber nun habe ich das Gefühl, wir sind die einzige glückliche Familie hier.
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(written by Lisa Müller, geb. Gehricke)